Erschienen in „Direkte Aktion 205 Mai/Juni 2011“
Wie sich Menschen in Not durch das Sammeln von Leergut über Wasser halten
Früh am Morgen, wenn rund um den Berliner Ostbahnhof die letzten feiernden Menschen aus den Clubs stolpern, haben die meisten FlaschensammlerInnen ihre Runden oft schon mehrmals hinter sich gebracht und beginnen damit, ihre Depots zu den Supermärkten im Bahnhof zu bringen. Still trudelt einer nach dem anderen ein und steuert gezielt auf den Pfandautomaten zu. Das Personal hat es sich mittlerweile abgewöhnt komisch zu schauen, wenn voll beladene Einkaufswagen mit Pfandflaschen durch den Markt geschoben werden. Nur der Mann hinter dem Automaten kommt gleich am Morgen ins Schwitzen. Er muss hinter dem Automaten dafür sorgen, dass die Bierflaschen in die richtigen Kisten gelangen und diese dann stapeln. „Es gibt feine Unterschiede“ erklärt Holger, 52 Jahre, seit vier Jahren arbeitslos: „Die besten sind natürlich die 25 Cent PET Flaschen, dicht gefolgt von den restlichen Plastik-Pfandflaschen. Bei den Glas-Pullen musste mehr ackern um auf deine Mark zu kommen.“ Anfänglich war es die Hilflosigkeit, mit den vom Staat kalkulierten Hilfen nicht klar zu kommen, die ihn dazu trieb, hier und da nach Pfand Ausschau zu halten. Irgendwann wurde ihm die Stütze gestrichen, aus „Mitverschulden“ wie er sagt. Von da an ging es fast nur noch bergab. „Als meine Wohnung zur Debatte stand dachte ich mir, jetzt reicht es, ich will was machen, dann fing ich an mit dem Sammeln als Job“. Je nach Jahreszeit geht es los, die ganze Nacht über steuert er „seine Punkte“ an, welche er jedoch aus taktischen Gründen nicht verrät. Einige dieser Stellen teilt er sich mit anderen SammlerInnen. Die Reviere in Berlin sind mittlerweile heiß umkämpft. Ab und an kommt es auch zu ernsthaften Auseinandersetzungen. Daran hat Holger kein Interesse: „So weit geht es dann auch nicht, dass ich für 20 Euro am Tag mir meine Gesundheit riskiere.“
Die Berliner IHK gibt leider keine Auskunft darüber, wie viele Spätverkaufsstellen es in der Stadt insgesamt gibt. Doch Abgabestellen, wo die Menschen die Pfandflaschen loswerden, gibt es in der Stadt mittlerweile tausende.
Seitdem es in den Innenstadtbereichen in jeder Straße Spätverkäufe gibt und das Pfandsystems bei Plastikflaschen eingeführt wurde ist daraus ein regelrechter Industriezweig geworden. Ein Großteil der gesammelten Pfandflaschen wird nicht etwa wieder verwendet, sondern zu Granulat verarbeitet. Zu großen Ballen gepresst gehen die Plastikflaschen nach China und werden dort zerschreddert. Aus den Granulaten werden synthetische Textilien hergestellt die dann meist wieder bei den westlichen Modeketten landen. Die Fleecestoffe werden vor allem in der Sportbekleidung eingesetzt, da diese besonders Atmungsaktiv sind und wenig Flüssigkeit in die Fasern aufgenommen wird. 640 Millionen Pfandflaschen landen so jedes Jahr in anderen Industriezweigen.
Mittlerweile ist der Pfandbereich ein Millionengeschäft geworden. Nachdem 2006 ein einheitliches Pfandsystem in Deutschland eingeführt wurde entstand schnell ein Rückkaufmarkt. Verwendete PET Granulate sind bis zu drei mal billiger als der neue Grundstoff, welcher aus Öl gewonnen wird.
Das ist Holger ziemlich egal. Für ihn zählen andere Dinge. Am Monatsanfang zum Beispiel werfen die Menschen eher achtlos Flaschen auf die Strasse. Jetzt wo es wieder wärmer wird und die Menschen auch mehr Zeit im Freien verbringen landet mehr in den Grünanlagen. An den Hotspots, wie dem Mauerpark oder dem Volkspark Friedrichshain ziehen die SammlerInnen dann ihre Runden. Der eine oder andere wird auch schon die Erfahrung gemacht haben, kurz mal nicht hingeschaut zu haben und schon war die Flasche neben einem weg.
Die Flaschenpfandwirtschaft scheint auch zunehmend besser organisiert zu sein. So befinden sich seit einigen Monaten an vielen Berliner Papierkörben kleine Aufkleber, die dazu auffordern, seine Flaschen unter oder vor den Mülleimer zu stellen. Auf diesem Weg müssen die SammlerInnen nicht extra in die Abfallbehälter kriechen, um an das heiß begehrte Pfand zu kommen.