Erstveröffentlichung auf freitag.de am 05.06.2013
In den letzten Jahren ist ein enormer Zuwachs von chemischen Kampfmitteln bei Auseinandersetzungen zu beobachten
Als in Griechenland die Menschen 2008 gegen die Zustände revoltierten – der 15 Jährige Alexis Grigoropoulos wurde damals von Polizeieinheiten in Athen erschossen – entstanden landesweit Proteste, die sich im Laufe der Zeit gegen den gesamten Staat richteten. Die Staatsmacht versuchte die Ordnung aufrecht zu erhalten und setzte Unmengen von Tränengas gegen die Protestierenden ein. Die Wut und der Protest steigerte sich und weite Teile der Athener Innenstadt gingen in Flammen auf. Irgendwann verbreitete sich in den Medien die Meldung, in Griechenland ginge das Tränengas aus und die Regierung müsse aus dem Ausland , wie aus Deutschland und Israel, weitere Reserven anfordern.
Damals schon bekamen viele Beobachter_innen ein sehr unbehagliches Gefühl, angesichts des Ausmaßes, wie Regierungen versuchten ihre Bevölkerung in den Griff zu bekommen, wenn diese die bestehende Ordnung in Frage stellten. Spätestens seit dem Jugendliche in den Trabantenstädten von Frankreich begannen zu revoltieren, hörten die zuständigen Ministerien genau hin, wenn ihre Polizeistrategen neue Mittel der Aufstandsbekämpfung vorschlugen. Die Jugendlichen sahen nur den einen Ausweg, den einer Rebellion gegen die eigene hoffnungslose Perspektive. Aber anstatt sich mit den Ursachen auseinanderzusetzen, entwerfen die EU Ministerien immer neue Pläne, für den Fall der Fälle. Sobald führende Polizei- und Sicherheitsstrategen auf EU Gipfeln zusammenkommen, ist eines ihrer zentralen Themen immer auch die Aufstandsbekämpfung . Sie alle lernen aus den Erfahrungen in den „urbanen Gebieten“ der letzten Jahre. Sei es in London, Athen, Stockholm, oder jetzt Istanbul.
Dabei scheinen die Abläufe allzu Oft sehr ähnlich, wie sich urbane Revolten erst in den Städten und dann über das Land ausbreiten. Die Aufstandsbekämpfer_innen studieren die Verhaltensweisen und Mittel sehr genau, um für den Krisenfall im eigenen Land gerüstet zu sein. „Rüstung“ dagegen, ist hierbei nicht nur als bloße Floskel zu verstehen. Der Sicherheits- und Überwachungsapparat soll im befriedeten Zustand der Bevölkerung ein Gefühl trügerischer Geborgenheit vermitteln. Im Ernstfall ist er aber eher dazu da, die Krise zu managen und die richtigen Maßnahmen zu treffen. Überwachung im öffentlichen Raum bietet die Chance für die Führungsstäbe, die Brennpunkte von Auseinandersetzungen zu bestimmen und konkrete Schritte einzuleiten, damit die einzelnen Fronten koordiniert zersetzt werden. Wo die polizeilichen Mittel nicht mehr reichen, geht ein solcher urbaner Aufstand in offene Frontlinien über.
Hochgerüstete Polizei-Sondereinheiten
Früher war es die Kavallerie, die dann zu Ross ins Feld geführt wurde. Heute besteht die Kavallerie aus hochgerüsteten Polizei- Sondereinheiten, die mit allen nötigen Befugnissen ausgestattet, direkt zu sogenannten „Störer_innen“ vordringen kann. Notfalls geht sie wie jetzt in Istanbul mit brachialer Gewalt vor, um die Ordnung wieder herzustellen. Ist die anerkannte Ordnung jedoch bei weiten Teilen der Bevölkerung in Ablehnung übergegangen, gehen tagelange Straßenschlachten über in eine Art Bürgerkrieg, einen Krieg der Bürger_innen gegen die Regierenden. Der Konflikt setzt sich fest und die Gräben vertiefen sich. Letztendlich zieht sich die Polizei zurück und das Militär zieht auf.
Doch Regierende versuchen immer wieder Aufständische Bevölkerungsteile in aller Öffentlichkeit mit Mitteln in den Griff zu bekommen, die laut Kriegsrecht seit dem letzten Jahrhundert verboten sind. Die Haager Landkriegskonvention verbietet im „ordentlich geführten“ Krieg den Einsatz von chemischen Kampfstoffen. Viel zu Massiv waren die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs, auf allen Seiten der miteinander Krieg führenden Staaten. Ziel war es, den Gegner nicht direkt zu töten, sondern ihn zu verstümmeln. Der Gegner sollte mit der Pflege seiner eigenen Soldaten konfrontiert werden und in eine logistische Schlacht verwickelt werden.
Hunderttausend Tote, verkrüppelte und für das Leben gezeichnete Soldaten kehrten nach dem Krieg in alle beteiligten Länder zurück. Die Menschen waren oft so geschockt über die unmenschlichen Methoden, die nun an die Öffentlichkeit traten, dass sich die Staaten auf gemeinsame Regeln und Bestimmungen beim Einsatz von Waffen in kriegerischen Auseinandersetzungen verständigten. Die mündete unteranderem in der Haager Landkriegskonventionen, bei der aber der Einsatz gegen zivile Beteiligte bei Auseinandersetzungen keine Beachtung fand. Nur so lässt es sich erklären, dass der Einsatz chemischer Massenvernichtungswaffen gegen die Bevölkerungen, also Zivilist_innen nicht festgelegt wurde.
Der Zweite Weltkrieg zeigte dann, dass vor allem Deutschland preußisch und bürokratisch genormt, mit chemischen Massenvernichtungswaffen Millionen von Zivilist_innen und Kriegsgefangener ins Gas schickte. Die Militärforschung entwickelte immer neue Kampfstoffe und erprobte immer perfidere Gase, die letztendlich im Holocaust eingesetzt wurden. Spätestens aus diesen Erfahrungen heraus, hätte eine bedingungslose Ächtung von chemischen Kampfstoffen in allen Kriegsrechtskonventionen erfolgen müssen. Aber nicht nur die Deutschen nutzen chemische Kampfstoffe zur Vernichtung. Winston Churchill erläuterte : „Ich verstehe die Zimperlichkeit bezüglich des Einsatzes von Gas nicht. Ich bin sehr dafür, Giftgas gegen unzivilisierte Stämme einzusetzen. […] Das eingesetzte Gas müsse ja nicht tödlich sein, sondern nur „große Schmerzen hervorrufen und einen umfassenden Terror verbreiten“. Seine Ausschweifungen beziehen sich in diesem Fall auf den Einsatz der Royal Air Force gegen die britischen Kolonien im Nahen Osten.
Nach Ende des Zweiten Weltkrieges wurde die Forschung jedoch weiter betrieben. Immer wieder versuchten Regierungen das Fass der chemischen Waffen zu öffnen. Dabei stießen sie aber in den meisten Fällen auf größten Widerstand. So lieferte während des ersten Golfkriegs der Einsatz von Kampfgasen im Irak gegen den Iran und Kuwait, den direkten Einstiegsgrund der Amerikaner und der verbündeten NATO Partner_innen in den Krieg. Chemische Waffen wurden nun in kriegerischen Auseinandersetzungen weltweit geächtet. Auch in Syrien, so wird uns vermittelt, ist der Einsatz von Nervengasen , die rote Linie, die diesmal den Kriegsgrund der Bündnisstaaten liefern soll.
Doch ein Durchbruch zur völligen Ächtung der Mittel ist nicht zu erkennen. Verstärkt knüpft die Waffenindustrie dort an, wo die Entwicklung der Kampfstoffe, Anfang des letzten Jahrhunderts, einmal begann. Sie entwickeln Stoffe, die als polizeiliche Mittel eingesetzt werden können. Die ersten chemischen Kampfstoffe wurden von der französischen Polizei entwickelt und eingesetzt. Nun steigt wieder die Bedeutung von „nichttödlichen“ Waffen, vor allem gegen zivile Unruhen innerhalb der Staaten. Doch nichttödlich sind die Kampfstoffe keineswegs. Etliche Studien beweisen, die tödliche Wirkung von Tränengas und Pfefferlösungen, die Weltweit bei Protesten und Aufständen zur Zerstreuung von Protestierenden eingesetzt werden. Diese Substanzen setzen speziell auf Wirkungsweisen wie Desorientierung, Atemnot und Ohnmacht, um den Widerstandswillen von allen Beteiligten zu brechen.
Ganze Kanister mit Tränengas
In den letzten Jahren ist ein enormer Zuwachs von chemischen Kampfmitteln bei Auseinandersetzungen zu beobachten. Wenn in Istanbul ganze Kanister mit Tränengas aus Hubschraubern über Stadtvierteln abgeworfen werden, ist jegliches Maß überschritten. Hier wird nicht mehr gezielt gegen einzelne Gruppen vorgegangen, hier wird auf die Masse gezielt. Insofern wird es zum Massenmittel. Immer öfter berichten Menschen, die in den Konfliktregionen stecken, von quasi Ausräucherungsversuchen seitens der Polizeieinheiten. Die Gase legen sich wie ein Nebel über ganze Stadtteile und ein normales Atmen ist nicht mehr möglich. Die Einheiten in Istanbul schießen Tränengase in Moscheen, die als Lazarette genutzt werden, in Hotelhallen und Privathäuser. Die Dosierungen die mittlerweile in den Polizeigasen eingesetzt werden, sind hoch konzentriert.
Während Globalisierungsgegner_innen mittlerweile fast etwas resigniert die unterschiedlichen Gase klassifizieren können, wie etwa „französisches Tränengas ist stärker als das der Deutschen, die in Griechenland eingesetzten sind stärker als die dänischen usw“, sollten Beobachter_innen und Kriegsgegner_innen sich verstärkt die Frage stellen, wer an der Produktion der Gase eigentlich verdient? Wer beliefert die Welt mit chemischen Kampfstoffen? Wann werden diese Stoffe endlich in der Form verboten, dass auch Regierende es nicht mehr wagen, ihre Bevölkerungen mit chemischen Mitteln zu bekämpfen?
Die Diskussionen über das Verbot von Pfeffergel und Tränengas flammen immer wieder auch hier zu Lande auf. Gerade wenn bei Demonstrationen gegen Naziaufmärsche wie in Dresden oder wie dieses Wochenende in Frankfurt bei den Blockupy Protesten Unmengen von Pfeffergel und Tränengas verschossen wurden. Statistiken über den Einsatz dieser Waffen gibt es bislang nicht, denn eine Erhebung der eingesetzten Mengen findet hier zu Lande gar nicht erst statt. Vielmehr sollte doch aber der Gebrauch ähnlich gehandhabt werden, wie der Gebrauch einer Schusswaffe. Mit genauem Protokoll. Aber bei den Diskussionen kommen dann schnell immer wieder die gleichen Beißreflexe der Polizeiführung und ihrer Lobby-Vertreter_innen, wie den Gewerkschaften der Polizei.
Die GDP veranstaltete erst vor wenigen Wochen eine Protest-Simulation in Berlin, bei der den Medienvertreter_innen der sinnvolle Einsatz von chemischen Kampfmitteln zum Brechen von Widerstand verdeutlicht werden sollte. Die dagegen protestierenden Demonstrant_innen wurden im Anschluss „human“ auf altherkömmliche Weise zu Boden gebracht, sie liefen in die Fäuste einer Berliner Einsatzhundertschaft. Und wenn die Diskussion über ein Verbot zu sehr greifbar wird, dann kommen die alternativen Kampfmittel aus der Schublade. Denn wenn keine chemischen Kampfstoffe mehr zur Abwehr zur Verfügung stehen dürfen, dann muss halt die Tödliche „nichttödliche“ Taser-Waffe zur Verteidigung dienen. Aber auch dieses Mittel ist bekanntermaßen tödlich und auch hierzu gibt es wissenschaftliche Erkenntnisse.
Jakob Augstein schrieb in seiner Kolumne bei Spiegel Online, unter der Überschrift „Im Zweifel zuschlagen“: Ein Staat, der seinen Demonstranten nur mit Gewalt Herr werden kann, verliert vor den Augen der Öffentlichkeit seine Legitimation. Der gewalttätige Staat ist der schwache Staat. In Frankfurt und in Istanbul.
Damit erkennt Augstein als einer der ersten an, dass seit Jahren die Proteste gegen die bestehende und vorherrschende Ordnung vor allem eins werden, sie werden kriminalisiert. Auch wenn ein direkter Vergleich der Zustände in Istanbul und Frankfurt völlig überspitzt und unverhältnismäßig ist, sollte „Im Zweifel zuschlagen“ vielleicht viel wörtlicher genommen werden. Der wesentliche Unterschied zu früher ist jedoch, dass bei Auseinandersetzungen damals, auch die Protestierer_innen ab und zu einen Treffer landeten und im Zweifel später sogar Minister_innen wurden. Heute sind Polizeieinheiten vermummt, nicht mehr ansprechbar und hochgerüstet wie Soldat_innen. Wo sie auftauchen, gibt es meist Gewaltexzesse. Wem das zu Platt ist, sollte sich das Beweismittel der Verteidigung im Prozess gegen den Jenaer Jugendpfarrer Lothar König anschauen. Werden Proteste weiter kriminalisiert und mit Gewalt zerschlagen, dann eskaliert es und auch hier wird Protest irgendwann zur Revolte.